„Paradox: wenn ein Schlaumeier Unsinn verzapft.“
Friedrich Löchner – deutscher Pädagoge, Dichter, Autor und Schachspieler
Und das trifft in dem in diesen Zeilen visierten Topic aus mehreren Gründen so schon mal mit Sicherheit nicht zu. Die Bedeutung des Titels: Je geringer die sozialen Ungleichheiten, desto sensibler wird das Volk für verbleibende Ungerechtigkeiten. Also je weniger soziale Ungleichheiten eine Gesellschaft, ein politisches System kennt, desto sensibler reagiert das Volk bei den verbleibenden Ungerechtigkeiten. Oder noch: Je deutlicher das Volk die wenigen verbleibenden Ungleichheiten als durch und durch „menschengemacht“ erkennt, desto empfindlicher wird es für eben diese Differenzen und umso mehr Empörung wird den Herrschenden entgegenschlagen. Dieses Phänomen wird in der Soziologie das „Tocqueville-Paradox“ genannt. Interessantes Thema jedenfalls…
Mit dieser Frage hatte sich der französische Publizist, Politiker und Historiker Alexis de Tocqueville, der von 1805 bis 1859 lebte und an Tuberkulose starb, intensiv beschäftigt. Er gilt als Begründer der Vergleichenden Politikwissenschaft. In seinem im Jahr 1840 erschienenen Buch „Über die Demokratie in Amerika“, das ihn berühmt machte und das bis heute zu den Klassikern der historischen Literatur zählt, bemerkte er zu dem noch jungen amerikanischen Staat mit seiner damals völlig neuen demokratischen Verfassung, die bekanntlich vor noch kurzer Zeit für einen gewissen Präsidenten, den man ob seiner Machenschaften, die als „Trumpismus“ bezeichnet und dessen „politische Ideologie“ neben seiner Person als Super-GAU für die USA in die Geschichte eingehen wird, so wenig galt, folgendes: „Der Hass, den die Menschen gegenüber Privilegien empfinden, wächst im Verhältnis zur Abnahme dieser Privilegien, so dass die demokratischen Leidenschaften am heftigsten zu lodern scheinen, wenn sie am wenigsten Brennmaterial haben.“ Das kann man auch so lesen, dass wenn überall Ungleichheit herrscht, das Volk keine einzelne davon besonders wahrnimmt. Demgegenüber werde die geringste Ungleichheit in einem definierten Umfeld allgemeiner Gleichheit als besonders hassenswert empfunden – und allgemein bemerkt wird somit die soziale Debatte zusätzlich befeuert.
Spinnt man dieses Prinzip auf unseren, hierzuländchen hochgelobt hohen bis sehr hohen Lebensstandard, mit dem so manche so gerne prahlen, uns als Exempel einer modernen parlamentarischen Monarchie mit „Triple A“ ob florierender Wirtschaft, einem Finanzplatz, der uns als eines der drei führenden Finanzzentren der EU definiert, seinem gratis ÖPNV usw. sehen, nämlich weiter, so könnte man in der Tat die in Leserforen oder in den sozialen Medien mal mehr oder weniger heftig geäußerten Beschwerden des Volkes in ebendiesen Kontext des „Tocqueville – Paradoxons“ setzen. Das Volk hat demnach nur ein „Luxusproblem“ indem gewisse Schlaumeier nur mehr Unsinn verzapfen, sich über Kleinigkeiten beschweren, Probleme aufwerfen, die keine sind, sich (siehe die unser aller Leben und unsere Freiheiten einschränkende Pandemie) ob ihrer kritischen Meinungen zu Verschwörungstheoretikern entwickelt haben, oder aber rein marginale Ungerechtigkeiten zu absoluten Dramen hochspielen – Was soll das? Uns geht’s doch (vermeintlich) allen absolut top, oder? Wir klagen nur auf höchstem Niveau, mehr ist das doch nicht…
Eben gerade nicht, denn dem ist längst nicht so – gibt es doch sehr viele politische, soziale, menschliche Problemfelder, die von unserer politischen Klasse besonders auf internationalem Parkett tunlichst ignoriert werden, wo man doch riskieren könnte, würde man all dies zu sehr thematisieren, mit fatalen Folgen „glatt“ auszurutschen, sich zu disqualifizieren, oder sich sonst irgendwie unglaubwürdig zu outen. Wer spricht denn schon gern von zunehmender Armut, drohender Altersarmut, dramatischer Wohnungsnot ob exorbitanter Wohnungspreise, immer mehr psychisch Kranken, hohen Selbstmordraten, zunehmender Jugend– und Drogenproblematik und Jugendarbeitslosigkeit – alles „Non – Events“ im Vokabular gewisser „Bling-Bling“ Politmachern oder sonstiger Blender in „modern, digital times“, die immer auf Schönwetter machen und für die etwaige, gar evidente Probleme nur nachhaltige Imageschäden darstellen, mit denen man sicherlich nicht punkten kann? Tabuthemen oder die (lästige) Sozialdebatte soll tunlichst vermieden werden…Oder doch nur alles bloß dieses „Toqueville-Paradox“ – natürlich in persönlicher Interpretation – dem wir Luxusbürger erliegen?
Die lästigen Gesänge der pauschal Empörten, der chronischen Dauerkritiker, der Frustrierten, diese Rabulisten, die in kritischen Kommentaren ihr mit viel Verve wiederholtes Dauernarrativ vom Jammertal der heutigen Welt und ihrer vielfältigen Probleme ungefragt von sich geben und unsere ach so engagierte Politikerkaste, die in Bälde wieder ihre Champagner – (Pardon: Crémant) – Gläser den Reichen und Schönen der Welt zuprostend schwingen werden, so zu Unrecht zu kritisieren sich erdreisten? Diese so umworbenen Reichen dieser Welt, die in nicht ferner Zukunft unser Land, das unsere Jugend wohl noch mehr in Richtung „Grande-Région“ und diese bevölkernd verlassen muss, mit ihrer für unseren Finanzplatz so wertvollen Präsenz zunehmend beehren werden? Es lebt sich hierzuländchen bekanntlich so schön und gut – sofern man das nötige Kapital dazu hat, versteht sich…
Doch man wird uns verstummendes, kreidefressendes Wahlvolk schon noch eines realpolitisch Besseren belehren, in einer Welt, einem Land, das nach dieser Pandemie die richtigen Lehren ziehen wird – das wird schon…
…und dann wird niemand mehr sich über (angeblich) unerträgliche gesellschaftliche, politische, gar pur menschliche oder sonstige Ungerechtigkeiten, die in diesen Zeilen erwähnt wurden, aufregen, in einem Land, in dem so etwas doch eigentlich nicht vorkommen dürfte! Denn Wutbürger, Protestblogger oder andere Querulanten sind nicht gefragt, ja unerwünscht, entsprechen sie doch nur dem „Toquevillschen – Paradox“, dem Phänomen, dass sich…. „mit dem Abbau sozialer Ungerechtigkeiten gleichzeitig die Sensibilität gegenüber verbleibenden Ungleichheiten erhöht.“
Sie werden verstummen – alle!
Frank Bertemes