Im „Manifest für den Frieden“, das inzwischen 936’000 Unterschriften in Deutschland gesammelt hat, schrieben die damalig noch Linke Politikerin Sahra Wagenknecht und die feministische Journalistin Alice Schwarzer am 2. Januar 2023 zum Ukraine-Krieg: „Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert.“
Am 17. September 2024, ein Jahr und 8 Monate später, schätzte das Wall Street Journal die Zahl der Verwundeten und Toten auf eine Million (Pancevski, 2024). Seit Beginn der Invasion bis heute haben die USA, dem Bericht des Außenministeriums zufolge, 66,5 Milliarden US-Dollar an militärischer Unterstützung für die Ukraine bereitgestellt. Diese umfassen fortschrittliche Waffen, Ausbildung und logistische Unterstützung (United States Department of State, 2025).
Am 14. September 2024 berichtete das Kieler Institut für Weltwirtschaft, dass der Ukraine seit dem Beginn des Krieges rund 267 Milliarden Euro an Hilfsgeldern zur Verfügung gestellt wurden. Das entspricht 80 Milliarden Euro pro Jahr: „Von diesem Gesamtbetrag entfielen rund 130 Milliarden Euro (49 Prozent) auf Militärhilfe, 118 Milliarden Euro (44 Prozent) auf finanzielle Unterstützung und 19 Milliarden Euro (7 Prozent) auf humanitäre Hilfe“ (IfW Kiel, 2025). Dabei hat Europa bereits die Hilfen der Vereinigten Staaten überholt.
Glaubt man der NATO-nahen Washingtoner Denkfabrik Atlantic Council, so hat es Russland im Verlauf des gesamten Jahres 2024 fertiggebracht, die militärische Initiative auf dem Gefechtsfeld zu wahren und an mehreren Abschnitten der rund tausend Kilometer langen Frontlinie Fortschritte in Form von Gebietsgewinnen zu erzielen (Bielieskov, 2025).
Im vergangenen Jahr kam es ebenfalls zu einer nie dagewesenen Zahl an Desertionen in der Ukraine, die die ohnehin angeschlagene Verteidigungsfähigkeit des Landes weiter geschwächt haben. Sollte es nicht gelingen, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, drohen der Ukraine schwerwiegende Konsequenzen, so die Autorin des Atlantic Council.
Es dürfte wohl nicht unverständlich sein, bei dieser Situation, bei solchen Zahlen von Toten und Verwundeten, von Geldern für Waffen und humanitäre Hilfen, bei der Schwächung der Ukraine durch Auswanderung – fast 7 Millionen Menschen, rund 18 % der Bevölkerung, laut den Schätzungen der UNHCR habe die Ukraine seit Kriegsbeginn verlassen – und Desertion die Wirksamkeit weiterer tausend oder hunderttausend Toten, Milliarden Hilfeleistungen infrage zu stellen.
Was genau sollte sich jetzt, nach drei Jahren massiver Aufrüstung, durch weitere Aufrüstung und Waffenlieferungen gegenüber dem russischen Territorialgewinn bewerkstelligen lassen?
Hinzu kommt – ein Argument, das die Verteidiger des Friedens durch Waffen gerne abstrakt und ohne jegliche Zahlenangaben anführen –, dass laut der letzten Schätzungen der Washingtoner Gallup Organization die Hälfte der ukrainischen Bürger sich ein „schnelles, verhandeltes Ende vom Krieg“ wünscht (Gallup, 2025). Es scheint, als ob die Kriegsverteidiger sich genauso wenig an der realen Meinung der Ukrainer interessieren wie die jetzigen Akteure des scheinbaren „Diktatfriedens“ (Olaf Scholz am 17. Februar 2025 in Paris).
Solche Zahlen können selbstverständlich hinterfragt werden, insbesondere da es sich jeweils um die gegenwärtig bestverfügbaren, jedoch methodisch bedingten Schätzwerte handelt, deren Genauigkeit durch begrenzte Datenlage, dynamische Entwicklungen und Erhebungsunsicherheiten relativiert werden muss.
Man könnte freilich auch – wie etwa Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung des Europäischen Parlaments – kurzerhand jene Zahlen präsentieren, die den eigenen bellizistischen Überzeugungen am besten entsprechen. Bereits während der Pandemie haben Politik und Medien derartige politisierte Zahlentechniken weitgehend normalisiert und damit einer strategischen Instrumentalisierung quantitativer Aussagen Vorschub geleistet. So behauptete Frau Strack-Zimmermann kürzlich in einer Debatte, dass Putin „hunderte Millionen unter die Erde gebracht“ habe und die Ukraine „70 Milliarden Menschen ernähre“ (ORF. „Im Gespräch“ 25. März 2025).
Bedeutend einfacher wird die Debatte, wenn sich Politiker und Medien ganz vom Bezug auf die Wirklichkeit loslösen. Dadurch wird es möglich, in selbstbezogener Tugendhaltung sich gleichzeitig als Befürworter der Demokratie zu inszenieren und die reale „Intoleranz gegenüber Andersdenkenden in öffentlicher Anprangerung und Ausgrenzung“ moralisierend zu übertünchen. Hieraus entsteht im aktuellen Erziehungsjournalismus „die Tendenz, komplexe politische Fragen in moralische Gewissheiten zu überführen“ (Die Zeit, 2020).
Genau diese öffentliche Zurschaustellung des als demokratisch mystifizierten Illiberalismus veröffentlicht das Wort in einem Artikel vom 27. März 2025. In ideologischer Übereinstimmung mit dem Abgeordneten David Wagner von Déi Lénk äußert sich Diego Velazquez – Wort-Redakteur mit „interdisziplinärem akademischem Hintergrund in Philosophie, Sprachwissenschaft, Kommunikation und Wissenschaftstheorie“ – in der Ukrainefrage wie folgt:
„Indem sich Déi Lénk der Realität des Krieges auf dem Kontinent stellen – anstatt mit der ADR im Abseits zu schmoren – haben sie wieder einen Anspruch darauf, ihr Wort in der derzeitigen Verteidigungsdebatte mitzureden.“ (Velazquez. Wort. 27. März 2025)
Die vermeintliche „Realität“ entspricht hier selbstredend der politischen und moralischen Überzeugung des rechten Wortjournalisten, der von den „Junglinken“ geteilt wird. Der Leser versteht: erst wer sich der „Realität“ des scheinbar unanfechtbaren Meinungskonsenses anpasst, darf mitreden. Ob solcher Meinungskonsens auf irgendeinem Bezug zur Wirklichkeit gründet, ist in solchem Diskurs je schon überflüssig.
Wer nicht linientreu ist, sollte aus dem demokratischen Diskurs ausgeschlossen werden. Und das heißt, im Wortduktus der Illiberalen: Die Opposition schmort im Abseits. Das ist dieselbe Ausschlusslogik, die auch die sogenannte Lifestyle-Linke gegenüber den Rechten praktiziert. Wer anders denkt, ist undemokratisch. Demokratie, die in den Träumereien einiger politischer Philosophen einmal partizipativer Pluralismus bedeuten sollte, wird hier hinter den Brandmauern des stillschweigenden Konformitätsdrucks verbannt und zum politischen Schweigen verurteilt.
Diese neue ‚demokratische‘ Ordnung vertreten, dem Wort zufolge, sowohl die „jungen“ Linken als auch die antiliberalen Rechten. In solchen Schein-Debatten wiegt die Bereitschaft zur Einordnung und die Orientierung an die homogenisierte Mehrheitsposition schwerer als substanzielle linke Kritik.
Seit März 2020 hat die „junge“ Linke durch ihre einhellige Unterstützung eines fragwürdigen Ausnahmezustands – den sie noch drei Jahre zuvor entschieden und mit moralischem und juristischem Nachdruck abgelehnt hatte – ihre gruppenbezogene Loyalität im autoritär geprägten Kontext zum ideologischen Fundament ihres politischen Selbstverständnisses erhoben. Damit sollte die Anpassungsfähigkeit der Linken als möglicher Koalitionspartner dauerhaft gesichert und die tragende moralische Linie innerhalb der Partei gegen die prinzipiengeleiteten „Altlinken“ verhärtet werden.
Tatsächlich realpolitisch handeln diese jungen Linken vor allem dann, wenn sie die jeweils dominante Meinung – mit einem Hauch rhetorischer Eigenfarbe – übernehmen. Denn parteitaktisches Kalkül und strategische Inszenierung ersetzen zunehmend politische Substanz und offenbaren damit die eigentliche Realität einer zur Schau Spektakel-Demokratie.
Dass durch die Unterstützung rechtskonservativer Medien bereits eine Woche vor der innerparteilichen Debatte politische Tatsachen geschaffen werden, offenbart auf machtstrategische Weise das illiberale Grundverständnis einer selbstgerechten jungen Parteielite. Damit übernimmt die „junge“ Linke was einer der Vordenkerinnen der „ewiggestrigen“ Linken ([sic] Velasquez & Wagner, 2025) – Chantal Mouffe – die post-politische Stellung nannte: „Was ich postpolitisch nenne, ist die Tatsache, dass die Bürger nicht mehr zwischen unterschiedlichen Konzepten wählen können.“ „Demokratie“, so Mouffe weiter, „muss agonistisch sein, es muss Konfrontation geben und damit auch die Möglichkeit der Wahl. Wir haben einen Konsens der Mitte und der ist schlecht für die Demokratie“ (Martini & Mouffe, 2018). In diesem Populismus der radikalen Mitte fügt sich die „junge“ Linke bereitwillig in eine flexible Gleichrichtung mit der Rechten ein.
Nachdem Marx einst den idealistischen Kopf der hegelschen Weltgeschichte entschlossen auf die realwirtschaftlichen Füße gestellt hatte, schaffen es die jungen linken und rechten Realpolitiker – mit medialer Kavallerie im Rücken – diesen Kopf wieder tief genug zu beugen, um bequem in den Kanon aktueller Machtverhältnisse hineinzunicken. Das Prinzip dieser Realpolitik lautet dann wieder einmal: Tant pis pour les faits ! Aber die Moral ist gerettet. Und irgendwo zwischen den Ruinen marschiert sie weiter, die Wahrheit der Selbstgerechten, ungebeugt, unberührt, mit der Würde dessen, der nichts gesehen hat. Die Toten zahlen, die Verstümmelten tragen, die Vergewaltigten sühnen.
Literatur:
- Martini, T., & Mouffe, C. (2018, Oktober 10). Chantal Mouffe über Demokratie: „Populismus kann progressiv sein“. Die Tageszeitung: taz. https://taz.de/Chantal-Mouffe-ueber-Demokratie/!5538435/
- Die Zeit. (8 Juli 2020). “Liberalismus: Widerstand darf kein Dogma werden.” https://www.zeit.de/2020/29/cancel-culture-liberalismus-rassismus-soziale-gerechtigkeit
- Pancevski, B. (2024, September 17). “Toll of Dead and Injured Hovers Near One Million in Ukraine War.” Wall Street Journal. https://www.wsj.com/world/one-million-are-now-dead-or-injured-in-the-russia-ukraine-war-b09d04e5
- Gallup Inc, G. (2024, November 19). Half of Ukrainians Want Quick, Negotiated End to War. Gallup.Com. https://news.gallup.com/poll/653495/half-ukrainians-quick-negotiated-end-war.aspx
- Bielieskov Mykola. (2025, Januar 7). “Putin begins 2025 confident of victory as war of attrition takes toll on Ukraine.” Atlantic Council. https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/putin-begins-2025-confident-of-victory-as-war-of-attrition-takes-toll-on-ukraine/
- U.S. Security Cooperation with Ukraine. (12 März 2025.) United States Department of State. https://www.state.gov/bureau-of-political-military-affairs/releases/2025/01/u-s-security-cooperation-with-ukraine/
- Riegel, Tobias. (28. März 2025) „Strack-Zimmermann dreht auf: „Putin hat Hunderte von Millionen Menschen unter die Erde gebracht“. NachDenkSeiten – Die kritische Website. Abgerufen 30. März 2025, von https://www.nachdenkseiten.de/?p=130845
- IfW Kiel. (14. September 2025). Ukraine support after 3 years of war: Aid flows remain low but steady – Shift towards weapons procurement. https://www.ifw-kiel.de/publications/news/ukraine-support-after-3-years-of-war-aid-flows-remain-low-but-steady-shift-towards-weapons-procurement/
- Velasquez D. & Wagner, D. (2025, März 27). „David Wagner holt Déi Lénk aus dem politischen Abseits.“ [Luxemburger Wort]. https://www.wort.lu/politik/david-wagner-holt-dei-lenk-aus-dem-politischen-abseits/51683721.html
- Javel, F. (2025, März 30). „David Wagner entfremdet Alt-Linke mit Ukraine-Kehrtwende.“ Luxemburger Wort. https://www.wort.lu/politik/david-wagner-entfremdet-alt-linke-mit-ukraine-kehrtwende/51704131.html
Wenn ein linker vom LW gelobt wird muessten bei ihm eigentlich alle alarmglocken schrillen.
Dass die gruenen ja inzwischen die konservativen in sachen bellizismus rechts ueberholt haben ist eine andere feststellung.