„Die Räuber kommen! Mit ungeheurer Heeresmacht überziehen sie unser Land. Sie wollen uns das Leben lassen, wenn wir ausliefern, was wir zum Leben brauchen. Warum den Tod fürchten, aber nicht den Hunger? Wir unterwerfen uns nicht.“ (Bertolt Brecht – 1934)
vielfältig ist die Kapitalismuskritik. Und natürlich durchaus angesagt. So erklärt der international bekannte Schweizer Soziologe, Professor Jean Ziegler, seiner Enkelin Zohra und ihrer Generation in einer ermutigenden Streitschrift, welchen unmenschlichen Preis wir für das Wirtschaftssystem „Kapitalismus“ zahlen müssen. Auf einem sehr reichen Planeten überleben zwei Milliarden Menschen in fürchterlichem Elend. Täglich sterben Zehntausende Kinder an Mangel – und Unterernährung. Kapitalistische Profitgier zerstört die Umwelt, vergiftet Böden, Flüsse und Meere, beschädigt das Klima und verschmutzt die Natur. Der Kapitalismus sieht sich als alternativlose, unüberwindbare Weltordnung, als Ende der Geschichte. Dem widerspricht Jean Ziegler als weltbekannter Kapitalismus– und Globalisierungsgegner vehement und gibt entsprechende Antworten auf die Fragen seiner Enkelin – und eigentlich uns allen.
Es gibt einige besondere Aussagen in diesem sehr empfehlenswerten Buch, das er nicht nur für die junge Generation geschrieben hat. Auf die interessante Frage der Enkelin, die wohl viele sich stellen, nämlich auf jene, ob diese Kapitalisten denn tatsächlich kein schlechtes Gewissen hätten, gibt er eine deutliche Antwort: „Sie fühlen sich nicht verantwortlich. In der Regel sagen sie, es sei die ‚unsichtbare Hand des Marktes‘, die die Welt regiere und deren Wirken von ‚unveränderlichen Naturgesetzen‘ bestimmt werde, nicht anders als die Gravitation oder die Bahnen der Planeten. Sie bringen eine Rechtfertigung, eine Legitimationstheorie, für ihre Machenschaften in Stellung, die schlüssig, aggressiv, komplex und außerordentlich wirkungsvoll ist. Man bezeichnet sie als Neoliberalismus!“
So einfach kann man sich das aus der Sicht der Kapitalisten in der Tat machen. Man faselt von der „unsichtbaren Hand des Marktes“ oder auch von „unveränderlichen Naturgesetzen“, ist für nichts verantwortlich und schämt sich natürlich mitnichten für all das, was der neoliberal entartete Dschungelkapitalismus diesem Planeten, der Mehrheit der Menschen und allen Lebewesen, die auf unserer Mutter Erde leben, im Laufe der eigentlich sehr kurzen Periode, seit der es dieses irrsinnige Wirtschaftsmodell gibt, angetan hat. Und deshalb sieht Jean Ziegler Karl Marx als besonders wichtig, weil dieser die erste umfassende Theorie des Kapitalismus geschaffen hat, die (Zitat) „erste radikal kritische, außerordentlich lebendige, kenntnisreiche und intelligente Gesamtdarstellung. Sie hat viele nachfolgende Generationen antikapitalistischer Denker inspiriert. Im Kapital beschreibt Marx exakt, wie es zur Akkumulation des Mehrwerts kommt.“ Pikant auch, dass Ziegler seiner Enkelin sagt, dass sie in der Schweiz lebt und dass sie in einer Schweizer Schule leider sehr wenig Aussichten habe, etwas über Marx oder irgendeinen anderen radikalen Kritiker des Kapitalismus zu erfahren. Soviel zum Schweizer politischen Bildungssystem, das schon so einiges aussagt. „La Suisse lave plus blanc“, wie Ziegler sein Land schon einmal in „systemischem“ Kapitalismus-Gehorsam in einem Buch beschrieben hatte. Und das dürfte wohl bekannt sein…
Weniger bekannt sind allerdings die Schattenseiten einer anderen Praxis in der Schweiz, die Jean Ziegler in seinem Buch kritisch thematisiert. Er setzt das so oft zitierte und hochgelobte Instrument partizipativer Demokratie, meint die „Volksbefragung“ und die „Volksbegehren“ der Schweiz in den direkten Kontext des kapitalistischen Systems. Er erklärt seiner Enkelin, dass ihr eigenes Land ein politisches System besitzt, das als (theoretische) „direkte Demokratie“ bezeichnet wird. 100.000 Bürger*innen können, wenn sie sich einig sind, eine Volksbefragung verlangen, in der über die Einführung, Veränderung oder Abschaffung eines beliebigen Verfassungsartikels entschieden wird. Ziegler ärgert sich darüber, dass es an diesen oftmaligen „Abstimmungssonntagen“ zumeist zu katastrophalen Ergebnissen kommt. Das weil die Schweiz von einer kapitalistischen Oligarchie beherrscht wird, die zu den unbarmherzigsten und raffiniertesten der Welt gehört. 2 Prozent der Bevölkerung verfügen über 96 Prozent der Vermögenswerte, das allein schon verwundert – oder eben doch nicht. Und das soll aus kapitalistischer Sicht tunlichst auch so bleiben. Denn vor jedem Referendum mobilisieren die Oligarchen viele Millionen Schweizer Franken, um das Stimmverhalten des Volkes in ihrem Sinne zu beeinflussen – und das, so Ziegler, gelingt in der Regel auch! Beispiele der beiden letzten Jahre: die Schweizer stimmten gegen die Einführung eines Mindestlohns, gegen eine Begrenzung der Managergehälter, gegen eine staatliche Krankenversicherung (sic!), gegen eine zusätzliche Urlaubswoche für alle, gegen eine Rentenerhöhung…Wie blökende Schafe gehorchen die Schweizer Bürgerinnen und Bürger den Diktaten der Oligarchen, so Ziegler. Und prägt dazu ein interessantes Wort: die stolze Schweizer Eidgenossenschaft kann fortan eher als Musterbeispiel für eine „simulative Demokratie“ dienen, statt als wahre „direkte Demokratie“ bezeichnet zu werden, so wie wir dieses Land oft als Mustereispiel einer partizipativen Demokratie bewundern! Es ist eben nicht alles Gold, was glänzt…
Die Schweiz, als direkte Demokratie oft so hoch gelobt, ist in real also eine „simulative Demokratie“ – eine interessante Bezeichnung. Und die unterliegt strikt kapitalistischen Macht – und Geldinteressen. Deshalb sollte dieser weitere kapitalistische Irrweg uns hierzulande eine Mahnung sein. Noch verfügen wir über so manche guten Mechanismen der sozialen Marktwirtschaft, für die wir uns weiterhin in bester demokratischer Praxis einsetzen müssen. Trotzdem müssen die Instrumente direkter, partizipativer Demokratie als Stärkung der parlamentarischen Demokratie unbedingt eingeführt werden. Und dazu gibt so manche Möglichkeiten und praktische Beispiele entsprechend nützlicher Instrumente….
…auf dem Weg hin zur Republik?
Frank Bertemes