Die Politik sagt: “Seid klug wie die Schlangen!” Die Moral setzt hinzu: “Und ohne Falsch wie die Tauben!”
Immanuel Kant
Was gibt es wertvolleres als die Geschichten des Alltags? Geschichten, die das Leben schreibt. Es sind eigentlich diese Storys des Alltäglichen, manche würden sagen, des alltäglichen Wahnsinns – womit sie natürlich oft recht haben – die uns jenseits aller politischen oder sonstigen Kritik, die man täglich äußern könnte – zum Nachdenken bewegen. In diese Kategorie gehört ein rezentes persönliches Erlebnis ohne Belang, wie es so einige in ihrer heuer leider verbreiteten Sichtweise der totalen Gleichgültigkeit einschätzen würden. Titel des an dieser Stelle beschriebenen „unbedeutenden“ Intermezzos: Die Taube. Es geht übrigens nicht um die lesenswerte Novelle gleichen Titels des deutschen Schriftstellers Patrick Süskind aus dem Jahre 1987, die an dieser Stelle bemüht werden soll, sondern um eine real existierende Taube, deren in diesen Zeilen beschriebenes Dilemma sich allerdings zum für diesen unschuldigen Vogel persönlichen finalen Drama hätte entwickeln können…
Ein Blick aus dem Bürofenster vor Feierabend kurz nach halb sechs: in einem modernen, erst kürzlich bezogenen Gebäude bewegt sich etwas: eine Taube! Die zwischen einem Fenster und einem wahrlich hippen Geländer eingeklemmt ist und die ob der Enge des Zwischenraumes nicht mehr fortfliegen kann. Da der Beobachter zum Bahnhof eilen muss, um seinen Zug nicht zu verpassen, hofft er, dass jemand das Tier aus seiner misslichen Lage befreien wird. Doch mitnichten – am nächsten Morgen sitzt das unschuldige Tier noch genauso da. Eingeklemmt – ohne Chance sich selbst zu befreien. An diesem Gebäude gehen täglich viele Menschen vorbei. Genauso wie übrigens an den diversen Drogenabhängigen, armen Menschen mit wohl dramatischen persönlichen Schicksalen, die hier herumsitzen, sich halbnackt ihre Spritzen setzen, herumschreien, im Drogenwahn toben, miteinander streiten, sich gar prügeln, zwar bei gelegentlich stattfindenden Polizeikontrollen interpelliert werden, jedoch tags darauf selbstredend an gleicher Stelle wieder anzutreffen sind usw. Egal wie, ein Alltagsdrama im Bonneweger Viertel, das die politisch Verantwortlichen, trotz diverser und wiederholter Telefonanrufe bei der (im Topic der Drogenproblematik selbstverständlich überforderten) zuständigen Polizeidienststelle und auch Briefen mit Unterschriftenaktionen von Einwohnern, allerdings trotzdem wenig zu interessieren scheint. Im Gegenteil: diese Subkultur „wertloser“, marginaler Randfiguren, die sich hier täglich tummeln, agieren direkt neben einer modernen Kinderkrippe in ebendiesem top-modernen Gebäude … in dem die unschuldige Taube zu sterben drohte – was die vielen Passanten des Alltags genau so wenig interessiert wie diese Junkies, die hier scheinbar auch nachts, gekoppelt mit anderen „Aktivitäten“, die an dieser Stelle nicht genannt werden, ihr trauriges Dasein fristen.
Der Beobachter musste also aktiv werden. Er verfasste ein Papier, das er mit „Help!“ übertitelte und an die beiden Eingangstüren des hippen Gebäudes klebte. Die Reaktion sollte tatsächlich innerhalb von einer halben Stunde erfolgen: die Fenstertür öffnete sich und die Taube wurde nach einiger Bedenk – und Aktionszeit mithilfe eines Besens befreit. Das Tier flog genau gegenüber und platzierte sich am Fenster des Nebenbüros eines Kollegen, der dem Schreiber dieser Zeilen mitteilte, dass es sich nicht mehr von der Stelle rührte. Nachdem dieser sich dem Fenster näherte, sah die Taube ihn mit ihren unschuldigen Augen kurz intensiv an…und flog davon!
Eine bewegende Aktion der Dankbarkeit? Vielleicht – es gibt viele kleine Geschichten des Alltags, eben vieles zwischen Himmel und Erde, das uns Menschen wenig verständlich ist, uns jedoch immer wieder einmal zu Emotionen bewegen kann – und das ist gut so!
Denn wir haben allgemein immer noch eines gemeinsam: das Menschsein.
Zu wünschen wäre allerdings, dass die politisch Verantwortlichen sich bedeutend engagierter um die Probleme jener Menschen kümmern, die in diesem Beitrag erwähnt werden und sich glaubwürdig für diese traurigen Zeitgenossen einsetzen würden. Mitmenschen, die ob ihrer individuell fatalen Lebensgeschichten in der Gosse des menschenunwürdigen Drogenmilieus gelandet sind und nie wieder herauskommen werden…Und das um sie mittels anständiger Sozialpolitik und menschenwürdiger Auffangstrukturen aus ihrer Sucht und ihrem furchtbaren Milieu zu befreien.
So wie die Taube aus ihrem Gefängnis für eine Nacht!
Frank Bertemes