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Gesellschaft

Thierry Simonelli: Benehmt euch: Wir haben die Regeln! 

Thierry Simonelli: Benehmt euch: Wir haben die Regeln!
Marc Thoma

 

Während des diesjährigen Treffens des World Economic Forums in Davos, wurde Frau Věra Jourová, die tschechische Vizepräsidentin der EU-Kommission, von Euronews auf Elons Musks Aussagen über freie Meinungsäußerung befragt.[1] Denn Herr Musk hatte tatsächlich behauptet, er setze sich für einen Absolutismus der freien Meinungsäußerung auf Twitter ein.

Was Herrn Musks Absolutismus anbetrifft, so Frau Jourová mit einem ironisch-verächtlichen Lächeln, so muss er wissen, dass auch wir, also auch die Europäische Kommission, Beschützer der Redefreiheit sind. Wir, so Jourová, haben die Regeln und wer sich nicht benimmt, der wird mit Sanktionen zu rechnen haben.

Das neue Informations-Schutzgesetz

Die Regeln, um die es hier geht, sind die des Digital Services Act (DSA), der am 23. April 2022 in Kraft trat.[2] Dieses Gesetz soll die europäischen Bürger nicht nur vor illegalen Onlineinhalten schützen, sondern auch vor Desinformation, Manipulation und Hass.

Auch für die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, erlaubt es der DSA sicherzustellen, dass das Internet wieder zu einem sicheren Raum wird, der Meinungsfreiheit unterstützt und beschützt.

Und der zuständige Europakommissar Thierry Breton, der noch kürzlich vehement behauptete, dass man in den Gängen der Europäischen Kommission niemals Lobbyisten treffe, denkt, dass mit dem DSA die Zeit vorüber ist, in der die großen Konzerne so verfahren konnten, wie es ihnen gefiel.

Sicher ist sicherer?

Photo by Erik Mclean: https://www.pexels.com/photo/sign-for-pedestrians-on-post-on-roadside-5864188/

Selbstverständlich ist der Schutz vor illegalen und gefährlichen Inhalten im Internet eine lobenswerte Absicht. Und niemand wird an den möglichen Gefahren von Falschinformation, Manipulation und Hass zweifeln. Dennoch kann man sich nur schwerlich über dieses neue Gesetz zur Sicherung von Demokratie und Geschäft freuen.

Verdeckt von den lobpreisenden Aussagen der europäischen Politiker dürfte die schöne neue demokratische Zukunft der Redefreiheit trotz ihrer guten Absichten auf eine Reihe von altbekannten Problemen stoßen.[3]

Nach dem Risikopräventionsansatz des DSA obliegt es den Plattformen den tatsächlichen oder vorhersehbaren negativen Auswirkungen auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit, des gesellschaftlichen Diskurses oder der öffentlichen Sicherheit Einhalt zu gebieten. Der Begriff von tatsächlichen oder möglichen negativen Auswirkungen ist aber nicht nur äußerst vage, sondern liest sich wie eine regelrechte Einladung zur willkürlichen Zensur.

Im Fall der Desinformation sollen „nachweislich falsche oder irreführende Informationen“ per Algorithmen von den großen Internetplattformen herausgefiltert werden.

Nun gleichen aber die meisten wissenschaftlichen und sogar politischen Wahrheiten nicht den unvergänglichen und unveränderlichen Ideen Platons.

Wissenschaftliche Forschung und politische Debatten in einer Demokratie kennzeichnen sich dadurch, dass ihre Wahrheiten sowohl angreifbar als auch revisionsfähig sind und abgelehnt werden können.

Die Wahrheit der Politik

Als die Inquisition 1633 Galileos Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme verurteilte, tat sie das unter anderem mit dem Argument, dass die Bibel als wissenschaftliche Autorität damit infrage gestellt sei. Galileos Annahmen und Beweisführungen wären also, aus der Perspektive der Europäischen Kommission, nicht nur irreführende Information, sondern hätten nachweisbare negative politische und gesellschaftliche Auswirkungen.

Aus solchen historischen Beispielen ersieht man leicht, auch ohne Rückgriff auf Antonio Gramscis Einsicht, dass Wahrheit und Information auch zu den Manipulationstechniken der politischen Macht zählen, wie einfältig solche Begriffsbestimmungen der Wahrheit und der Information sind.

War Demokratie aber nicht einmal gedacht, um die Wahrheit von der politischen oder wirtschaftlichen Macht zu trennen? John Stuart Mills Markplatz der Ideen, Karl Poppers offene Gesellschaft oder die neueren Theorien der deliberativen Demokratie sind jedenfalls nicht auf Wahrheitsministerien gestützt.

Selbstverständlich sind demokratischer Diskurs und wissenschaftliche Forschung ohne Wahrheitsanspruch hinfällig. Aber vermögen es europäische Wahrheitskommissare mit nebulösen Entscheidungsprinzipien die Demokratie zu retten?

Welches auch immer die Absichten von Elon Musk sind, so haben die Twitter-Files schon unmissverständlich gezeigt, wie aktiv und systematisch auch Regierungen, Geheimdienste und ihre Experten im Verbreiten von Falschinformationen tätig sind.

Wer aber kontrolliert dann diese zweifelhaften Kontrolleure?

 

 

 

In Replik auf einen Verfechter der liberalen Zensur

Ein gebildeter Leser hat meine Kritik der europäischen Zensur freundlich mit dem Hinweis auf Karl Poppers bekanntes Paradoxon der Toleranz infrage gestellt. Das Paradox wurde vom österreichischen Philosophen im ersten Band von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945) entwickelt. Popper formuliert in einer Fußnote des 7. Kapitels das Paradox der Toleranz im Zusammenhang mit den von ihm sogenannten Paradoxa der Freiheit und der Demokratie. Um die Kritik meiner Kritik besser zu verstehen, werde ich kurz auf Poppers Paradox eingehen und zeigen, wie es sich auf die Frage der Zensur anwenden lässt.

Kurz gefasst: Das Paradox der Freiheit besteht darin, dass eine zu große Freiheit zur Unterdrückung der Freiheit führen kann. In der Demokratie könnte sich diese Logik so ausdrücken, dass eine antidemokratische Minorität die Macht an sich reißen und dann die Demokratie abschaffen könnte.

Man dürfte sich hier an die politisch einfältigen Aussagen eines medizinischen Spezialisten erinnern, der dachte eine ungeimpfte Minorität würde die Volksmehrheit in „Geiselhaft“ nehmen. Nach der Ansicht dieses politischen Extremisten – politischer Extremismus kennzeichnet sich durch die Ablehnung der demokratischen Grundrechte und Freiheiten, der Meinungs– und Interessenpluralität sowie der Menschenrechte – , bestünde das demokratische Recht der Mehrheit darin, aus ihrer numerischen Überzahl eine scheinbar „gefährliche“ Minorität, wenn nötig, mit Gewalt, zum Einlenken zu bringen.

Nun sind rechtsstaatliche Demokratien nicht einfach und ausschließlich auf die einzige Norm der Mehrheitsregel fundiert. Zum einen kennzeichnet die Mehrheitsregel nicht nur Demokratien, und zum anderen werden kollektive Entscheidungen in Demokratien praktisch nie nach Mehrheitsregeln gefasst. Mussolinis totalitäres Italien bediente sich eines großen Faschistischen Rats (Gran Consiglio del Fascismo) der nach einem klar definierten Mehrheitsprinzip funktionierte, und der den Duce im Juli 1943 absetzte und inhaftieren ließ. Man denke hier auch an die Mehrheitsprinzipien des römischen Senats, der Wahl des Kaisers des Heiligen Römischen Reichs, oder an den Großen Rat der Republik Venedig, die man sicher schwerlich als demokratische Systeme bezeichnen dürfte. (Siehe Guggenberger, Bernd, et Claus Offe. 1984. An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie: Politik und Soziologie der Mehrheitsregel.)

Die Machtausübung in Demokratien arbeitet außer in spezifisch festgelegten Fällen in der Schweizer Eidgenossenschaft, und außerhalb der Wahlabstimmung selten (in der Praxis eigentlich nie) nach der Regel der Wählermajorität. Im Allgemeinen nimmt das Volk an den legislativen Prozessen des Parlaments, ob Mehrheit oder Minderheit, nie teil. Die Mehrheit wird hier nur symbolisch während der Legislaturperiode „repräsentiert“, hat derweil aber nicht das geringste Mitspracherecht.

Im luxemburgischen System zumal, in dem Privatpersonen von der Regierung auf Ministerposten erhoben werden können, die weder auf den Wählerlisten, noch Mitglieder einer politischen Partei waren, dürfte die demokratische Legitimierung nach der Mehrheitsregel gelinde gesagt nicht einmal an den subtilsten logischen Haaren herbeizuziehen sein.

Damit aber eine solche Wahl überhaupt demokratisch legitimiert werden kann, bedarf es vorerst der grundlegenden konstitutionellen Freiheits- und Gleichheitsrechte, die Individuen gegenüber möglichem staatlichem Missbrauch der Machtbefugnisse schützen. Ohne den Hintergrund einer solchen Staatsordnung gibt es nicht keinen notwendigen Zusammenhang zwischen Mehrheit und Demokratie.

Obwohl Poppers Paradox der Demokratie ungleich tiefer angelegt war als die populistischen Plattitüden unseres medizinischen Experten, stößt auch sie an die geläufige Verwechslung von Demokratie und Mehrheitsprinzip.

Zurück zum Paradox der Toleranz. Nach Poppers verständlicher Formel besteht das Paradox der Toleranz in folgender Idee: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“ (Popper, Op. cit. S. 609 sq.)

Von dem bereits erwähnten politischen Missverständnis bei Popper abgesehen, meinte dieser jedoch keinesfalls, dass intolerante „Philosophien“, Gedanken oder Diskurse gewaltsam oder materiell unterdrückt werden sollten.

Ganz im Gegenteil! Solange intolerante Ideen und Forderungen auf der Ebene des Diskurses und „rationalen Argumente“ zugänglich bleiben, solange wäre „ihre Unterdrückung sicher höchst unvernünftig“. Poppers Grenzen der Toleranz beziehen sich also nicht auf den demokratischen Diskurs, und sie schränken die freie Meinungsäußerung keinesfalls ein. Popper unterstützt die Offenheit für den demokratischen Diskurs mit der Intoleranz, nicht das Verbot der Intoleranz.

Im Fall der sogenannten „Hassrede“ fände man bei Popper also keinen Rückhalt. Man kann Poppers Paradox sogar in dem Sinne verstehen, dass intolerante Aussagen den demokratischen Diskurs geradezu fördern. Das Verbieten der Meinungsäußerung und des Dialoges mit dem Hass kennzeichnet Popper also als unvernünftig. Nicht aus Geschmack am Hass, oder aus moralischer Indifferenz, sondern aus dem leicht ersichtlichen Grund, dass Intoleranz und Hass weniger gefährlich sind, wenn sie im demokratischen Dialog bleiben, als wenn sie, wie es heute wieder in Mode kommt, mit allen Mitteln des Rechts und der Kommunikationstechnik ausgeschlossen werden.

Keine „Cancel Culture“ bei Popper, der noch gegen die reale Intoleranz, und die menschenverachtende Gewalt des Naziregimes dachte, und nicht mit der subjektiv empfindsamen Moral der Ankerkennung der Differenz durch Ausschluss von Feindgruppen (wie etwa „alte weiße Männer“, rechtsextreme Politiker, repressive Verfechter der biologischen Differenz, Sprachreaktionäre, Konservative, traditionelle Marxisten und Feministen, usw.)

Wo zieht Popper dann die Grenze der Toleranz und wann muss die Toleranz sich in ihr Gegenteil verkehren – in intolerante Repression – um sich vor dem „zu viel“ an Toleranz zu schützen?

Hier ist Popper sehr klar: wenn die Intoleranz vom Diskurs zum materiellen Gebrauch von „Fäusten und Pistolen“ übergeht, dann ist die Grenze der demokratischen Toleranz erreicht. Anders gesagt: wenn die freie Meinungsäußerung der Intoleranz zur gewalttätigen Praxis der Intoleranz wird, dann ist der demokratische Staat der „offenen Gesellschaft“ dazu berechtigt, sowohl die diskursive Toleranz als auch Intoleranz gegen die gewalttätige praktische Intoleranz zu verteidigen.

Die Idee also, dass der Staat, überstaatliche internationale Institutionen oder gar Privatfirmen die Grenzen der Toleranz innerhalb des Diskurses festmachen, ist nicht mit dem Paradox der Toleranz zu rechtfertigen.

Hinzukommt, dass die Europäische Kommission nicht nur Intoleranz und Hassrede verbieten möchte, sondern sich anschickt auch Desinformation, das heißt Wahrheit und Unwahrheit zu regulieren. Hier dürften hoffentlich auch die liberalsten Verfechter der Zensur von Intoleranz innehalten. Staatliches Informationsmonopol, zentralisierte Medienkontrolle und institutioneller Anspruch auf Wahrheit sind im Wesen immer totalitär, ob sie einer „Demokratie“ stattfinden oder nicht.

Was auch immer Frau Jourová und die Europäische Kommission sich also bei der Einschränkung der Meinungsfreiheit denken, so werden sie gewiss keine Unterstützung in Poppers Begriff der offenen Gesellschaft, oder in den sonst gängigen Begriffen und Theorien der Demokratie finden. Selbstverständlich schneiden sie mit ihren verbalen Benimmregeln erst recht jeglicher Konzeption von partizipativer oder deliberativer Demokratie den Lebensfaden ab. Damit hat die Kommission selbst ohne jegliche demokratische Grundlage die Grenzen der Toleranz und der offenen Gesellschaft überschritten.

 

[1] https://www.euronews.com/video/2023/01/19/the-time-of-the-wild-west-is-over-eu-vera-jourova-warns-elon-musk-twitter-from-davos-wef

[2] https://digital-strategy.ec.europa.eu/de/policies/digital-services-act-package

[3] Siehe Peukert, Alexander. 2021. « Five Reasons to be Skeptical About the DSA ». Verfassungsblog. (https://verfassungsblog.de/power-dsa-dma-04 )

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1 Comment

  1. Jean

    Wer intolerante und hassende dermassen hasst und nicht toleriert,dass er sie verbieten will muesste ja dann logischerweise auch verboten werden.
    Eine ueberlegung die man der EU kommission und gleichdenkenden mal unterbreiten sollte.

Verloossen eng Äntwert

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